Traum

 

In einer Kneipe treffe ich jemanden aus der Musikszene, irgendeinen Pianisten, keinen Freund, nur einen Bekannten. Einen, mit dem ich mal irgendwann was eingespielt habe. Im Gegensatz zu ihm habe ich mein Instrument, die Gitarre, eigentlich schon länger aufgegeben und mache alles Mögliche. Meine Gitarren habe ich bis auf eine Einzige längst verkauft. Im Augenblick bin ich ohne Job und leider auch ohne jede Idee, wie sich dieser Zustand ändern könnte. Davon weiß mein Gegenüber allerdings nichts und nach ein paar Getränken erzählt er mir von einer sehr gut bezahlten Nummer in einer extrem schrägen Umgebung. Er war ziemlich scharf darauf mir diesen Job zu beschreiben. Leider war ich schon einigermaßen betrunken und nicht mehr aufmerksam, aber dass die einen besonderen Act suchten, eine Art Artistennummer auf einem Musikinstrument und keine normalen Songs, bekam ich schon noch mit. Und dass die Gage enorm gewesen sein soll für das, was er abgeliefert hatte, blieb bei mir sofort hängen. Dann schrieb er mir den Kontakt, eine Telefonnummer, irgendwann später und nach einigem Hin und Her auf einen Bierdeckel.

Seit ungefähr fünf Jahren habe ich keine Gitarre mehr angefasst. Eigentlich bin ich wieder in dem Zustand, als ich anfing in Bands zu spielen. Ich habe genau noch eine Gitarre und einen Verstärker, so wie am Anfang. Und meine Spielpraxis strebt gegen Null. Dieser Austausch und diese Euphorie mit anderen gemeinsam Musik zu machen, hat für mich einfach irgendwann und aus irgendwelchen Gründen seinen Reiz verloren. Jetzt war da eine riesige Distanz und ein Publikum an meinen musikalischen Emotionen persönlich Teil haben zu lassen, fand ich plötzlich nur noch abwegig. Trotzdem rufe ich die Nummer an. Es meldet sich der Chefarzt eines Krankenhauses, denke ich, und ich stelle meine Fragen und wir verabreden uns kurzfristig.

Am nächsten Tag gehe ich dann da hin. Das Gebäude, was ich unter der angegebenen Adresse schnell finde, ist neu und irgendwas zwischen Hospital, Wohnresidenz und Laborkomplex. Der, mit dem ich verabredet bin, ist der Direktor dieser Institution und gleichzeitig ein Weisskittel, ein Arzt oder Wissenschaftler, oder beides.

Er ist außerordentlich erfreut über mein Erscheinen und offeriert mir ohne Umschweife eine Auftrittsmöglichkeit in seinem Laden. Auf meine Frage, was er sich denn genau vorstelle, beschreibt er etwa wie eine clowneske Unterhaltung, so etwas wie eine humorvolle Artistik auf dem Instrument, eben etwas total Überraschendes für die Ohren, jenseits von Melodie und Rhythmus und möglichst unkonventionell. Ich denke ihn ungefähr verstanden zu haben, frage aber nicht weiter nach, auch wegen des enormen Honorars für einen zeitlich überschaubaren Auftritt. Wir werden uns schnell einig. Ich erfahre den Tag der Show, wir verabschieden uns und ich verlasse diesen Ort.

Zu Hause bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich die ganze Sache überhaupt nicht lieber wieder rückgängig machen sollte, da ich mir völlig unsicher bin, ob ich etwas auf die Reihe bekomme. Ich hatte eine extrem lange Pause und habe in dieser Zeit überhaupt keine Gitarre mehr angerührt. Ich muss mir dringend auf die Schnelle etwas einfallen lassen. Zum Glück ging es nicht um Virtuosität im Sinne einer musikalischen Aufführung, sondern um ein eher experimentelles Klangereignis auf einer Gitarre. Das bedeutet nicht weniger an Intensität im musikalischen Ausdruck, aber viel mehr an individueller Freiheit. Da würde mir sicher schon etwas einfallen.

Als der Tag da war, ging ich wieder dort hin, mitsamt meinem Equipment. Mein Aufbau war schnell gemacht und ich spielte dann auf einer kleinen Bühne in einem Raum für ungefähr 150 Zuhörer.

Es war das außergewöhnlichste Konzert, was ich jemals gemacht habe. Die Zuhörer, die allesamt auf Vehikeln in den Saal geschoben wurden, deren Konstruktion ich noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, waren irgendwie keine Menschen. Manche hatten zwar einen Kopf und auch Arme, da wo Menschen diese haben, aber die allermeisten waren irgendwie eine Körpermasse mit Augen und Ohren. Einige waren weniger deformiert, so dass sie noch an eine menschliche Anatomie erinnerten, andere sahen aus wie Körper aus Biomasse  mit Sinnesorganen und merkwürdigen Extremitäten oder diese fehlten ganz. Die beweglichen Konstruktionen auf kleinen Rollen, die wie Stühle oder Sitze funktionierten, dienten dazu die Körper stabil zu halten, um sie in einer Position zu fixieren.

Dicht an dicht schoben die Helfer meine Zuhörer vor die Bühne, bis der Raum voll besetzt war. Kein Laut ging von ihnen aus, sie waren einfach nur anwesend. Dann begann ich mit meiner Nummer. Schnell hatte ich die nötige Konzentration für meinen musikalischen Ablauf. Ich führte mein Instrument vor und was man so alles mit einer elektrischen Gitarre machen kann, spieltechnisch zwischen Klang und Geräusch, mit und ohne Hilfsmittel wie Steine oder Sand oder den Materialien, mit denen ich sonst schon immer gearbeitet habe.

Ich hatte einen ganz guten Flow trotz meiner fehlenden Routine und war so in der Sache, dass ich das Umfeld beinahe vergaß. Der inneren Logik des Vortrags gehorchend, kam ich dann irgendwann zu einem Ende. Als der letzte Ton verklungen war, wurde es wieder still, bis nach einer gefühlten Ewigkeit ein leises Schnarren einsetzte und mein Publikum immer lauter merkwürdige geräuschvolle Laute von sich gab. Es waren fremdartige Lebensgeräusche ähnlich einem Hecheln, Zischen oder Schmatzen, und die Körper bewegten sich dabei kaum, aber die Geräuschkulisse schwoll unentwegt an, um dann plötzlich und unvermittelt abzubrechen. Kurz danach begannen die Helfer mit routiniertem Überblick mein Publikum aus dem Saal zu schieben. Wenig später war ich wieder alleine, bis der Direktor auftauchte und mich in sein Büro bat um die Formalitäten, wie er es nannte, zu erledigen.

Er begann mit der Frage, ob mich das Erlebte schockiert hätte. Ich wusste nicht genau darauf zu antworten, weil ich so etwas noch nie gehört, gesehen oder mir überhaupt irgendwie vorstellen konnte und wollte wissen, was er genau mit seiner Frage meinte. Er erklärte mir daraufhin, weshalb meine Gage so hoch sei. Es ist neben dem Honorar für den Auftritt eben auch eine Art Schmerzensgeld für den Anblick und die Alpträume, die mich noch einige Zeit heimsuchen werden. Da wird es mir genau so ergehen wie all den anderen vor mir. Noch bevor ich ihn fragen konnte, kam er mir zuvor und sprach von den Wesen, die mein Publikum waren. Er beschrieb sie als ein leider immer noch vorkommendes fehlerhaftes Ergebnis seiner Forschungen. Trotz des gesetzlichen Rahmens, einem offiziellen Verbot mit dem Erbgut zu experimentieren und entstandenes Leben unbedingt zu schützen, egal in welchem Stadium der Entwicklung, forsche er und seine Mitarbeiter in jedweder Form am Erbgut des Menschen und anderen Geschöpfen. Seine Labore seien ein seit Jahren ausschließlich vom Staat finanziertes Forschungsprojekt, das trotz des gesellschaftlichen Votums per Gesetz das Leben zu schützen und das Erbgut unangetastet zu lassen, geheim und im Stillen betrieben wurde. Leider müsse er so auch seine Misserfolge wie Menschen behandeln und könne sie nicht einfach als Fehlversuche entsorgen. Er bat mich dann vor der Auszahlung meines Honorars kurz den Vertrag und die Schweigeerklärung zu unterschreiben und auch den Anhang zu lesen. Ich bekam keine Kopie.

Cape Cod, August 2019