Die Nacht unterwegs

(eine nächtliche Hörreise)

 

Ich fand das Hotel ziemlich spät, beinahe als letzte Möglichkeit und war froh einen halbwegs akzeptablen Ort für die letzte Nacht in Spanien gefunden zu haben.

Neben der Ausfallstraße in Richtung der nächsten Stadt, an der das Gebäude stand, war ein freies Feld, fast so groß wie ein Fußballplatz, mit parkenden vereinzelten LKW´s und Trucks. Beim Anblick der wie verloren wirkenden Fahrzeuge auf der riesigen freien Fläche dachte ich für einen kurzen Moment, wie viele von diesen Riesen da wohl hinpassen würden.

In der Cantina, dem Bewirtungsraum, gab es einen Tresen, an dem ich die Schlüssel für das Zimmer bekam und gleich bezahlte. Dieses Prozedere vollzog sich ganz reibungslos und in alltäglicher Routine. Der ältere Mann mir gegenüber war anscheinend alles zusammen: Empfangschef, Barkeeper, Ober, Hausmeister und vielleicht sogar auch der Inhaber dieser Herberge. Er sprach mit mir nur soviel wie unbedingt notwendig, ohne ein Wort zu verschwenden.

Das Gebäude hatte zwei Etagen, die exakt gleich aussahen: Ein langer Flur, von dem rechts und links die Türen zu den Zimmern abgingen.

Mein Zimmer war im oberen Geschoss.  Als ich eintrat, fand ich zwei Betten, die den Raum beinahe ausfüllten, und kein Fenster. Dafür eine Eisentür zur Dachterasse und einen Schrank und ein winziges Bad.

Um zu lüften, öffnete ich die schwere Tür und betrat den Platz vor dem Zimmer.  Mittlerweile war es dunkel geworden. Es war immer noch warm. Die Luft wurde kaum kühler.

Ich stand vor der offenen Tür auf einer großen freien Betonfläche, auf der sich in einer Ecke Kisten mit Leergut stapelten. Der Bereich diente anscheinend dazu Dinge, die woanders im Wege waren, hier abzustellen und vor allem aber die anfallende Wäsche zu trocknen. Über der gesamten Terrasse waren Leinen und Drähte kreuz und quer gespannt und an einigen hingen weiße Laken, die schon lange getrocknet waren. Sie fielen schlapp von der Leine, es ging kein Windzug. Ich überlegte, ob ich die Tür über Nacht auflassen könnte.

Dann waren da aber die Geräusche der laufenden Motoren. Ich befand mich zwar auf der vom Parkplatz und der Straße abgewandten Seite des Gebäudes, aber in der Stille des Abends drang es herüber: Die  Stehenden mit laufendem Motor von diesem Parkplatz gegenüber und die Vorbeifahrenden von der Ausfallstraße. Der abendliche Verkehr hörte sich an wie ein nicht endendes, gezogenes Band aus unterschiedlich intensiven Motorengeräuschen, die lauter und leiser wurden. Sie kamen intervallartig aus beiden Richtungen, wurden immer lauter, je näher sie waren, dröhnten vorbei und verliefen sich in der immer größer werdenden Distanz zum Ohr. Wenn sie sich direkt und nah aus beiden Richtungen trafen, ergab sich eine Art Crescendo, ein kurzer lauter Höhepunkt. Manchmal wurde es weniger. Ich hoffte, dass der Verkehr vielleicht nachließe und ging zurück in das Zimmer. Erstmal ließ ich die Tür auf. Ich war mir sicher, dass im Laufe der Nacht immer weniger Verkehr sein würde. Dann löschte ich das Licht wegen der Insekten und legte mich auf das Bett, gleich hinter der offenen Eisentür und versuchte zu schlafen.

Nach ein paar kurzen Momenten schweiften meine Gedanken ab und die Müdigkeit begann zu wirken. Aber ich schlief nicht ein, weil mich eine laute Störung wieder zurückholte. Jemand war auf der anderen Seite der Terrasse tätig und hantierte im indirekten Lichtschein einer offen gelassenen Tür mit Glasflaschen. Leergut wurde zurückgestellt. Dabei machte es dieses typische Geräusch, wenn die Flasche in ihre Position in die Kiste rutscht und dann losgelassen wird und fällt. Die Person war behänd und treffsicher. In kurzer Zeit war eine größere Zahl Flaschen untergebracht und der schnelle und beinahe rhythmische Vorgang brach jäh ab. Von meinem Bett aus sah ich, wie der Lichtschein wieder verschwand. Eine Tür klappte und es war so dunkel wie zuvor.

Nach diesem Erlebnis war ich mir nicht mehr sicher, ob die Tür die ganze Nacht offen stehen sollte, zumal sich die Raumtemperatur trotz dieser Maßnahme kaum änderte. Ich schaltete also das Licht an und verriegelte die Stahltür. Nach kurzer Zeit wurde es jedoch spürbar stickig in dem kleinen Zimmer. Also beschloss ich die Aircondition anzuschalten.

Es war eine große Kiste, die oberhalb meines Kopfes unter der Zimmerdecke hing. Ich wählte die Maximaleinstellung und der Kasten summte und ratterte los. Dann löschte ich das Licht. Das Zimmer war wieder dunkel wie ein geschlossener Karton. Ich lag auf dem Bett und hörte dem brummenden Aggregat zu, was tatsächlich auch kühle Luft ausblies. Unwillkürlich hörte ich mich in alle Nuancen dieser Geräuschmaschine ein. Es gab keine Möglichkeit wegzuhören und ich beobachtete die Geräusche und kommentierte jede Veränderung noch eine Weile in meiner Fantasie, bis ich einschlief.

Als ich wieder aufwachte, war mir kalt. Ich hatte vergessen mich zuzudecken. Es war jetzt merklich kühler im Zimmer. Ich tastete nach meinem Handy. Es war noch nicht spät, aber ich hatte das Bedürfnis schnell wieder zu schlafen, da ich sehr früh am Morgen abfliegen wollte.

Also stellte ich die Aircondition ab. Als ich im Dunkeln den Drehknopf betätigte, bemerkte ich, dass das Gerät nicht richtig an die Wand geschraubt worden war oder sich im Laufe der sicherlich langen Betriebszeit vielleicht locker gerüttelt haben mochte. Der Gedanke verfolgte mich, als ich wieder im Bett lag, und ich stellte mir vor, wie sich die Maschine irgendwann in der Nacht von der Wand löst und mir direkt auf den Kopf fällt. Je länger ich daran dachte, umso wahrscheinlicher erschien mir diese Möglichkeit. Schließlich wechselte ich in das andere Bett und schlief wieder ein.

Einige Zeit später, ich hatte das Gefühl mehrere Stunden geschlafen zu haben, weckte mich ein lauter Knall außerhalb meines Zimmers. Es war erst kurz vor Mitternacht. Andere Gäste hatten die Etage betreten und die Eingangstür zugeschlagen. Durch den Luftzug im Flur vibrierte auch die Tür meines Zimmers so stark, dass ich zuerst annahm, jemand hätte daran gerüttelt. Sie wackelte heftig im Türrahmen. Noch schlaftrunken hörte ich, wie sich die Leute unterhielten und an meinem Zimmer vorbei geräuschvoll den Flur entlang gingen und irgendeinen anderen Raum aufschlossen und dort eintraten.

Ich war jetzt hellwach, lag auf meinem Bett in diesem winzigen Raum und lauschte in die Dunkelheit. Was an meine Ohren drang, waren viele gleichzeitige Ereignisse. Ich wollte nichts hören und am liebsten alles ausblenden, weghören und weiterschlafen, aber meine Aufmerksamkeit hielt daran fest und konzentrierte sich auf jedes neue Detail. Ich fühlte mich wie gefangen in diesem Zwang die vielen für mich fremden und unbekannten akustischen Vorgänge wahrnehmen zu müssen. Die Außengeräusche waren jetzt bis auf die von der Straße fast verstummt, aber ich hörte jede Regung der anderen Gäste in diesem Gebäude. Ich kam mir vor wie ein Zuhörer und Insasse in einem durchlässigen Resonanzkörper. Überall in den Zimmern schien etwas zu passieren. Ich hörte die Spülungen der Toiletten, das dauernde Rauschen der Airconditions, Kindergeschrei, die Fernsehprogramme und das Klappen der Türen und jedes Öffnen und Schließen der Fenster. Manchmal waren da deutliche Stimmen von irgendwoher.

Das Hotel war wie eine große transparente Membran, die alle akustischen Ereignisse zu verstärken schien. Es war unmöglich mich zu entziehen und nicht zuzuhören. Jede Verlautbarung drängte sich auf und ich hörte hinein, immer wieder verloren sich meine Ohren in dieser überraschenden Vielfalt und in den unterschiedlichen Distanzen ihrer Verursachungen: Weiter weg, irgendwo am Ende des Flures, im unteren Stockwerk oder draußen und dann, urplötzlich und vollkommen unerwartet ganz nah, direkt hinter meinem Kopf. Ich war wie elektrisiert. Es war ein leises, schabendes Kratzen in der Wand. Und tatsächlich, es war wieder zu hören. Ich hatte keine Ahnung, was es verursacht haben mochte. Gespannt wartete ich, ob es noch einmal passieren würde. Ich legte mein Ohr ganz nah an die Wand und lauschte. In dieser Haltung verharrte ich einige Zeit, aber nichts passierte. Enttäuscht legte ich mich wieder auf mein Bett und ich versuchte an nichts mehr zu denken. Während sich langsam meine Müdigkeit zurückmeldete merkte ich, dass es still war. Mir fiel es erst jetzt auf. Ich hatte das plötzliche Verstummen überhört. Weder das eben noch akute Geräusch in der Wand noch irgendein anderes in der Nähe, auf dem Flur oder sonst wo im Gebäude, war zu hören.

Es war unheimlich und ich hatte in der Dunkelheit meines Zimmers eine augenblickliche Vision: Ich dachte, dass alle Geräusche für mich inszeniert wurden, aufgeführt in dieser Nacht und nur für meine Ohren, hier in diesem spanischen Hotel.

Um mich zu beruhigen, schaltete ich die Aircondition wieder an. Das sonore und kalkulierbare Geräusch klang wie ein Teil meiner  bekannten und bisher erfahrenen Welt. Ich fühlte mich erleichtert und schaute auf die Uhr meines Handys. Es war fast drei Uhr am Morgen und ich hatte noch eine Stunde, bevor ich aufstehen musste.

 

Norderheistedt, Oktober 2011