Die Überlistung der Sperre

 

Das italienische Dorf in Ligurien besteht aus einer Durchgangsstraße und einem kleinen Platz, an dem jeder vorbei kommt. Hier, in der Nähe der Kirche, befinden sich alle Läden, eine Bar und Restaurants, die ihre Tische und Stühle draußen vor den Häusern stehen haben. An warmen Sommerabenden ist es hier besonders einladend. Dann sind alle da, essen und trinken und beleben vielfältig diese kleine Straße.

Um sich des leidigen Problems parkender PKWs zu entledigen, haben die Bewohner seit einigen Jahren eine für diese ländliche Region äußerst innovative Lösung gefunden und in eine wirklich originelle Maßnahme investiert. Es handelt sich um eine vollautomatische Straßensperre, die Punkt 17:00 Uhr von rechts nach links über die gesamte Fahrbahnbreite einen massiven Stahlträger ausfährt und den Bereich der Lokale absperrt um den störenden Straßenverkehr auszuschließen. Die Planungsidee scheint genial, da in den Zeiten, wenn dieses Stück Strasse besonders frequentiert wird, gegen Abend bis in die Nacht, kein lästiger Autoverkehr in diesem engen Bereich mehr existiert.

Leider kommt es aber vor, dass das Verkehrsschild, was auf diese temporäre Sperrung hinweist, übersehen wird, weil es tagsüber vom Lieferverkehr zugeparkt wird oder weil es einfach nicht groß genug bemessen und übersehen wurde. Dann stehen dort in der kleinen Strasse geparkte Automobile, über den Tag abgestellt, ohne dass die Eigentümer ahnen, dass um 17:00 Uhr die Straße gesperrt wird mit einem unüberwindlichen Stahlträger für die nächsten zwölf Stunden. Wer um 17:05 Uhr mit seinem Fahrzeug seine Reise fortsetzen möchte, hat dann ein Problem.

Wahrscheinlich ist es eine im Sommer immer wiederkehrende Situation, wenn die Überraschung von Ortsfremden in baldige Frustration umschlägt, wenn es völlig unklar bleibt, wie man mit seinem PKW dieser Falle doch noch entgehen könnte ohne sich ein Hotelzimmer für die  Nacht suchen zu müssen. Leider reagiert die Polizei in keiner Weise; am Ort ist keine Station und es gibt auch sonst niemanden, der einen Schlüssel oder einen Zahlencode besäße. Die Sperre allerdings macht eine Ausnahme: sie reagiert nämlich automatisch auf die Frequenz der Ambulanz- und Polizeisirene für den Notfall, um über einen akustischen Sensor eine Deaktivierung des Mechanismus einzuleiten und den Stahlträger einzufahren. Die Anwohner kennen das schon, wenn die Hilflosen beliebige Leute in den Läden oder auf der Straße ansprechen und fragen, wie dass denn sein kann und wie man da wieder weg käme. Trotz der immer wiederkehrenden Situation, die vielen mittlerweile sicherlich lästig geworden ist, sind die Menschen hier sehr hilfsbereit und extrem einfallsreich.

Der Wirt der Bar hilft immer. Er kennt die Möglichkeiten. Es muss nämlich entweder eine Vespa Primavera 125 sein oder eine Honda Hornet, aber oft haben seine Freunde, die diese Motorroller fahren, keine Zeit oder sind gerade nicht in der Nähe. Dann geht jemand in den Keller und holt seine Kettensäge: „MotorSäga von Stihl funktioniert immer!“, sagt er und geht damit zur Sperre, zieht zweidreimal am Zugband des Anlassers, bis der Motor anspringt, um dann direkt vor der Schrankenverkleidung die Motorsäge aufheulen zu lassen, immer wieder in kurzen und längeren Intervallen, bis die Frequenz und Lautstärke stimmt.

Plötzlich ein Warnton und die Sperre bewegt sich. Langsam verschwindet der Stahlträger in seiner Vorrichtung. Die Straße ist frei.

 

Dolcedo, Juli 2015