Die Wiener Sprachwolke

 

Nachdem ich kurz zuvor die Straße überquerte, stehe ich plötzlich und unmittelbar in einer Menschenmenge. Gerade ist das Ende einer abendlichen Filmvorführung unter freiem Himmel, hier im Park vor dem Rathaus von Wien zu Ende gegangen und alle wenden sich jetzt den vielen Ständen mit Getränken und kulinarischen Genüssen zu. Die Menschen stehen sehr eng beieinander. Es sind sehr viele auf engem Raum und alle reden miteinander. Noch ein paar Schritte und ich dringe ein in eine akustische Sprachwolke: Überlagerungen von Wortfetzen, Gelächter und halben Sätzen. Die Enge ist so extrem, dass ich mich sehr nah an den Worten und hörbaren Gesten der Anderen vorbeibewege. Ich komme kaum vorwärts, werde eingeklemmt, weitergeschoben, bis sich eine nächste Lücke ergibt. Manchmal verstehe ich ganze Sätze, meistens aber nur Fragmente. Die Worte sind ganz nah an meinem Ohr und es ist so, als ob es alle Worte an diesem Ort wären, alle Worte und gleichzeitig; die, direkt neben mir und die, ein Stück weit weg und die Summe aller Worte eines Augenblicks an diesem Ort. Eine wunderbare und undurchdringliche Dichte menschlicher Verlautbarungen, wie ein Teppich, der sich zu einem Hörraum aus Sprache und Kommunikation in die Höhe stülpt. Hinter mir, vor mir und um mich herum in jeder Richtung existiert dieses Dichte, diese pausenlose Vielfalt der Addition. Ein unvergleichlicher Zustand entsteht beim Hinübergleiten in dieses Hörphänomen fernab jeglicher inhaltlicher Haltegriffe. Permanent hallen die konkreten Worte in einer Wolke von sprachlichem Getöse nach. Aus einiger Entfernung, wenn der direkte Kontakt zur Verständlichkeit sich verflüchtigt, wird der gesamte Platz mit allen Menschen zu einer großen auditiven Bewegung im Raum der Stadt, weit weg vom Akut der eben noch nahen Einflüsterung beim Versuch der Durchquerung.

Wien, August 2004